Tinder-Date in Zeiten von Corona

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Tinder-Date in Zeiten von Corona

Tinder-Date in Zeiten von Corona

Fräulein November

Jessie war langweilig. Schrecklich langweilig. Sie hatte ihre kleine 1-Zimmer-Wohnung in den letzten vier Wochen nur noch zum Einkaufen und Joggen verlassen. Und das auch nur selten. Coronavirus und Kontaktverbot hielten die Welt in der Schwebe. Die Uni und deren Bibliothek waren geschlossen. Anfangs hatte sie noch versucht ihr übliches Pensum am heimischen Schreibtisch zu absolvieren, aber nachdem sie die letzte Hausarbeit beendet hatte, hing sie mehr oder weniger nur noch rum. Telefonierte mit Freunden und Familie und sah zu viel Netflix. Heute versprach auch nicht anders als gestern zu werden. Sie streckte sich unter der Bettdecke zum Fenster und hob eine Ecke des Vorhangs an – nur um ihn gleich wieder fallen zu lassen. Strahlender Sonnenschein. Als wollte sogar der Himmel die eingesperrten Menschen verhöhnen. Mit einem Seufzen strampelte sie die Decke von ihren nackten Beinen und schwang selbige über die Bettkante, um aufzustehen.

Sie trug nur ein Höschen und ein ausgeleiertes Uni-T-Shirt, beugte sich nun vor um die langen rotbraunen Locken mit beiden Händen zusammenzufassen und mit dem Haargummi von ihrem Handgelenk zu einem Knoten auf ihrem Kopf zu verzwirbeln. Dann streckte sie sich und ging barfuß hinüber zu der kleinen Kochecke. Duschen konnte sie später. Genauso, wie sich anziehen. Während die Kaffeemaschine brummte, weckte sie mit einem Wisch ihr Handy auf und checkte ein paar Nachrichten, die während der Nacht eingegangen waren. Der Kaffee war fertig, sie ging zurück zum Bett, zog mit einem Ruck den Vorhang auf und öffnete das Fenster weit, ehe sie sich mit Kaffeetasse und Handy auf der Fensterbank niederließ. Lustlos tippte sie auf dem Bildschirm herum, während sie an der Tasse nippte. Niemand tat irgendwas, also hatte auch niemand irgendetwas interessantes zu sagen. Aus reiner Gewohnheit tippte sie das Tinder-Icon an, nur um im nächsten Moment beinahe laut über sich selbst zu lachen. Das war nun wirklich nicht die Zeit für unverbindliches Dating.

Doch eine Sekunde später hatte sie die App erneut geöffnet und wischte durch die Profilbilder. Was solls, es war wenigstens ein Zeitvertreib. Links, links, links, rechts, links, links, klick, rechts, links… Sie pustete in ihren Kaffee, trank noch einen Schluck. Wischte weiter. Pling, ihr Bildschirm leuchtete auf. „Ist a Match!“. Anton. Spielte Gitarre und mochte Reisen. Na, herzlichen Glückwunsch. Sie grinste, öffnete den Chatbereich und tippte: „Na mit Reisen ist wohl grade nix, hm? ;)“ Kam sich im nächsten Moment blöd vor, das war ja wohl der alleroffensichtlichste Kommentar! „Na du bist ja ne ganz Kreative…“ kam dann auch prompt seine Antwort. Jessie wurde rot und schloss die App. Doch der Bildschirm leuchtete bereits wieder auf und sie konnte nicht wiederstehen nachzusehen. „Heute schon geduscht? ;)“ Sie musste grinsen: „Klaaar….“ Während sie noch an einer Ergänzung tippte, kam schon seine Antwort: „Geh duschen, Jessie!“ Sie stutzte, halb amüsiert, halb irritiert. Die Verwendung ihres Namens verwunderte sie fast noch mehr als die Aufforderung. Klar, er stand dick und fett in ihrem Profil, aber dennoch war sie nicht gewohnt im Chat damit angesprochen zu werden. „Ich rede nur mit sauberen Mädchen.“ Ihre Augen wurden noch ein bisschen größer, sie runzelte die Brauen und wusste gleichzeitig nicht, ob sie lachen sollte. „Kleiner Sauberkeitsfetisch?“, versuchte sie ihn ein wenig aufzuziehen, doch seine Antwort kam prompt: „Ich meins Ernst.“ Mit einem Kopfschütteln ließ sie das Handy sinken. Weirdo. Sah aus dem Fenster und nahm noch einen Schluck Kaffee. Blickte wieder auf den Bildschirm. Nichts. Wischte noch ein paar fremde Männergesichter nach links und rechts. Fühlte sich seltsam unruhig. Der Kaffee war leer. Sie war beinahe ärgerlich. Sie würde jetzt duschen. Aber nicht wegen IHM!

Das warme Wasser prasselte auf Jessies Kopf und Schultern. Da sie nicht so genau wusste, wann sie sich das letzte Mal die Haare gewaschen hatte (was sie aber nie laut zugeben würde!) hatte sie beschlossen, sich die komplette Packung zu geben. Sie schäumte und spülte und kurte und schrubbte und rasierte und summte dabei die Titelmelodie von Stranger Things. Als sie schließlich aus der Wanne stieg, fühlte sie sich so frisch und sauber wie schon lange nicht mehr. Sie wickelte sich in ihr großes Disney-Handtuch und fuhr mit einem groben Kamm durch ihre nassen Locken. Als sie ihn zurücklegte, fiel ihr Blick auf das Handy, das sie auf die Ablage unter dem Spiegel gelegt hatte. Kurzes Zögern, dann ein gedankliches Schulterzucken und sie öffnete die App: „Frisch geduscht. Happy? :P“ Während sie sich noch eincremte kam die Antwort und sie wischte ihre Finger am Handtuch ab. „Sehr schön. Und was hast du heute sonst noch Aufregendes vor?“ Die nächsten zwei Stunden vergingen in einem mehr oder weniger konstanten Hin- und Her von Nachrichten. Sie sprachen über Corona und die Isolation – natürlich – aber bald auch über persönlichere Dinge.

„Sag mal, du bist aber doch hoffentlich nicht eine von denen, die nun den ganzen Tag in der Jogginghose herumhängen, oder?“ Jessie sah an sich herab. Sie war zwar während des Gesprächs durch das Zimmer gewandert, hatte ihr Bett gemacht und sogar die einsame Grünpflanze in der Ecke gegossen, aber so richtig angezogen hatte sie sich nicht. Also eigentlich gar nicht. Sie trug immer noch das Disneyhandtuch. Vielleicht hatte sie zu lange zum Antworten gebraucht, jedenfalls kam nun eine weitere Nachricht: „Du hast dich nach dem Duschen doch angezogen, oder? :D“ Sie grinste, zögerte. Das war nun die Möglichkeit, um die Unterhaltung in ein wenig wärmere Gefilde zu lenken. „Und was, wenn nicht…?“ Sie merkte, wie ihr Herz ein klein wenig schneller pochte, als sie wartete, ob er darauf einging. Die Antwort war wie ein kalter Guss: „Jessie! Du darfst dich nicht so gehen lassen, auch wenn du nicht groß raus kannst.“

WEIRDO! Welcher Kerl reagierte denn so!? Das war doch eine Einladung auf dem Silbertablett gewesen. „Zieh dir sofort was an.“ Sie verzog das Gesicht – was zur… „Was Hübsches.“ Irritiert starrte sie aufs Handy. Der Kerl hatte doch einen Knall. Was glaubte der denn, wer er war, dass er sie so rumkommandierte? Oder war das sein Ding? Sie schnaubte amüsiert, sprang auf und öffnete ihren Schrank. Schob ein paar Kleiderbügel hin und her und zog dann ein hellgelbes Sommerkleid heraus. Sie hielt es vor sich und schoss ein schnelles Foto von ihrem Spiegelbild, dass sie ihm schickte (sie waren längst von Tinder zu WhatsApp gewechselt): „Ist das genehm?“ Sie hatte erwartet, dass er zurückrudern würde, wenn sie auf seinen sonderbaren Befehlston eingehen würde, aber stattdessen bekam sie nur ein: „Nein, das passt nicht zu deinen Haaren.“ Wtf? Nun war sie erneut hin- und hergerissen. War sie ärgerlich oder belustigt? Während sie noch mit sich stritt, was sie davon halten sollte, hatte sie ein anderes, ein hellblaues Kleid gegriffen und schickte ihm ein weiteres Foto. „Das ist viel besser! Ziehs an.“ Sie legte das Handy auf die Kommode. Starrte auf das Kleid in ihrer Hand. Warf ihrem Spiegelbild einen fragenden Blick zu. Dann löste sie das Handtuch und streifte das Kleid über.

Sie betrachte sich im Spiegel. Es stand ihr gut, schmiegte sich oben eng an ihre schlanke Figur und umspielte dann locker ihre Beine und Knie. Wegen des dünnen Stoffes konnte man deutlich sehen, dass sie keinen BH trug. Sie drehte sich um. Und man konnte sogar erahnen, dass sie auch kein Höschen anhatte. Sie grinste. So könnte sie sich nicht auf die Straße wagen. Das Handy vibrierte, aber die Nachricht war nur ein: „?“ Sie schoss ein Selfie von sich in dem Kleid, auf dem sie ihm die Zunge rausstreckte. „Schön. Du siehst sehr hübsch aus, Jessie.“ Sie legte den Kopf schräg. Das war nett. Es tat überraschend gut, das zu hören. „Und auch eine sehr hübsche Zunge.“ Sie lachte. Okay, neuer Versuch: „Ja, und die kann auch noch ganz andere Dinge…“ „Das glaube ich gerne.“ Sie grinste zufrieden – ah haaa! „Aber sie ist auch sehr frech.“ „Man sollte dir den Mund mit Seife auswaschen ;)“ Erneut wusste Jessie nicht, ob sie lachen oder sich ärgern sollte. Dass sie nicht wusste, wie sie reagieren sollte, war ein neues Gefühl für sie. Und es war, überraschenderweise, nicht unbedingt unangenehm. „Never! Davon kannst du lange träumen! :D“ „Ich geb dir eine Runde Sushi aus, wenn dus tust.“ Ihre Augenbrauen schnellten nach oben. Sie liebte Sushi – und das stand auch in ihrem Profil. Gott und sie hatte schon ewig keins mehr gehabt. „Tu es und schick mir ein Video. Dann bestelle ich dir was.“ „Allerdings brauche ich dann deine Adresse ;)“ Unschlüssig blickte Jessie aufs Display. Das war doch absurd. Sie würde doch nicht… und schon gar nicht… ach fuck it. No risk no fun. Sie grinste gequält und ging ins Bad. Wozu die Langeweile sie doch alles trieb…

Ihre Seife war Marke „Milch und Honig“. Das klang doch immerhin appetitlich! Sie lehnte das Handy gegen ihren Zahnputzbecher und aktivierte die Video-Funktion. Zog eine Grimasse und griff nach dem Stück Seife. Wie sollte sie das überhaupt anstellen? Sie musste lachen, riss sich zusammen, streckte die Zunge raus und berührte die Seife mit deren Spitze. Verzog das Gesicht – Igitt, das war ja widerlich! Ein zauderndes Grinsen in die Kamera, dann kniff sie die Augen zusammen und strich mit der Seife über ihre herausgestreckte Zunge, ehe sie sie in den Mund nahm und kurz daran lutschte. Oh Gott… Ihr stiegen fast die Tränen in die Augen. Schnell ließ sie die Seife fallen und drehte den Wasserhahn auf, schaufelte sich das Wasser in den Mund, gurgelte und spuckte, die schaumige Brühe lief ihr über das Kinn. Sie konnte den Geschmack kaum loswerden, verschluckte sich und musste husten. Ein paar Tränen liefen ihre über die Wangen, dann kam sie endlich wieder zu Atem und hob den Blick zur Kameralinse. Ehe sie es sich noch anders überlegen konnte, schickte sie das Video ab und ließ sich dann, immer noch leicht hustend, auf den Toilettendeckel sinken.

Sie fühlte sich sonderbar. Der Seifengeschmack war immer noch in ihrem Mund. Das war doch bescheuert, wieso hatte sie das getan…? Fast musste sie über sich selber lachen, aber nur fast. Schämte sie sich? Sie blickte zum Handy. Vielleicht hätte sie sich das Video erst nochmal ansehen sollen. Oder vielleicht besser nicht. Wollte sie das sehen? Sie fühlte sich gedemütigt. Sie fühlte sich seltsam. Ihr Handy leuchtete auf. „Gut gemacht, Jessie! Ich denke, das war gut für dich.“ Sie starrte auf das Display. Versuchte zu verstehen, warum es in ihrer Mitte flatterte, während sie das las. Warum ihr ein wenig heiß wurde, auch wenn ihr in dem dünnen Kleid eigentlich zu kalt sein müsste. „Also, wie ist deine Adresse? Du hast dir deine Belohnung wirklich verdient! :D“ Ohne nachzudenken schickte sie ihm ihre Anschrift. Kurz darauf: „Alles klar, dein Essen ist unterwegs, Jessie. Bist du noch im Bad?“ „Ja“ „Wie fühlst du dich?“ „Ich weiß nicht. Das war eklig.“ „Ja, das konnte ich sehen. Geh wieder rüber. Hast du Schokolade?“

 

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